Jungs Typologie: Extraversion und Introversion

Die Begriffe „extravertiert“ und „introviertiert“ scheinen in den letzten Jahren Eingang in unsere Alltagssprache gefunden zu haben. Viele Menschen benutzen diese Bezeichnungen ganz intuitiv, was darauf hindeutet, dass sie Erfahrungen unserer Lebensumwelt treffend beschreiben können. 

Der Duden definiert „extravertiert“ als „nach außen gerichtet, für äußere Einflüsse leicht empfänglich“ und „intovertiert“ als „auf das eigene Seelenleben gerichtet, nach innen gekehrt; verschlossen“. Diese Definitionen sind sehr grob, geben aber den Grundton wieder, der seit der Einführung der Begrifflichkeit durch C. G. Jung gesetzt wurde. 

Ich möchte heute und im Beitrag der kommenden Woche näher auf diese Persönlichkeitsmerkmale eingehen und wichtige Entwicklungslinien aufzeigen, die den Wandel der Begriffe zu unserem heutigen Verständnis der Persönlichkeitsdimension „Extraversion“ verdeutlichen.

Beginnen möchte ich mit dem Ursprung des Konzepts, der Typologie von Jung aus dem Jahr 1921. 

Was ist ein Typus?

Der Dorsch, das Lexikon psychologischer Fachbegriffe, definiert eine Typologie als „eine mehrdimensionale konzeptionelle Klassifikation, die Untersuchungseinheiten nach theoretischen Gesichtspunkten zu vollständig verschiedenen, sich gegenseitig ausschließenden Klassen zuordnet. Die Kategorie oder Klasse innerhalb einer T. wird als Typ bezeichnet.“ (Herzberg, 2020).

Hierbei sind zwei Aspekte wichtig. Zum einen ist die Klassifikation, also die Einteilung von – in diesem Fall Menschen – zu verschiedenen Klassen, mehrdimensional. Es werden also mehrere Persönlichkeitsmerkmale herangezogen, die in unterschiedlichen Kombinationen Typen bilden. Diese sind wiederum vollständig verschieden und schließen sich gegenseitig aus. Eine Person kann also nicht gleichzeitig mehreren Typen angehören.

Während Jung seine Typologie aus seiner therapeutischen Erfahrung und theoretischen Überlegungen entwickelte, gibt es heutzutage eine ganze Reihe von Möglichkeiten, Typologien durch die Anwendung statistischer Verfahren auf empirische Daten anzuwenden. 

Die Vorteile einer Typologie liegen darin, dass sie dem alltagspsychologischen Konzept von Persönlichkeit entspricht und sich daher einfach und effizient kommunizieren lässt (vgl. Herzberg, 2020). Das zeigt sich schon an der alltagssprachlichen Verwendung des Wortes „Typ“ (z.B. „Der ist nicht mein Typ“). Allerdings gehen bei einer typologischen Klassifikation auch viele Informationen verloren, etwa über die graduelle Abstufung des jeweiligen Merkmals. So wird in einer strengen Typologie beispielsweise meistens nicht berücksichtigt, wie stark des jeweilige Merkmal ausgeprägt ist, ob jemand also nur ein bisschen extravertiert oder eine richtige Rampensau ist. Beide gehören dem extravertierten Typus an, sobald extravertierte Anteile überwiegen. Auch die Ausschließlichkeit der Typen ist ein Problem, die der Situationsabhängigkeit von Verhalten nicht gerecht wird. So kann jemand im Beruf eher introvertiert, im Freundeskreis aber extravertiert sein. Welchem Typ gehört sie nun an?

Hier sind die aktuellen, dimensionalen Ansätze, die ich nächste Woche vorstellen möchte, deutlich flexibler, wodurch sich beispielsweise auch Konzepte wie „Ambiversion“, also das Vorliegen sowohl introvertierter als auch extravertierter Anteile in einer Person, abbilden lassen.

Nun aber zu Jung!

Extraversion vs. Introversion

In seiner Abhandlung „Über die Psychologie des Unbewussten“ (Jung, 2019) stellt Jung dar, wie er zu der Auffassung gelangt ist, dass zwei verschiedene Typen von Menschen gibt. Interessanterweise sieht er die theoretischen Auseinandersetzungen zwischen Sigmund Freud und Alfred Adler als Hauptquelle dieses Konzepts. Er beschreibt Freuds Ansatz als eine auf die Objekte bezogene Psychologie, wobei Objekte dadurch gekennzeichnet sind, dass sie Trieben dazu dienen, ihr Ziel zu erreichen: „Freud sieht seine Patienten in steter Abhängigkeit von und in Beziehung mit bedeutsamen Objekten“ (ebd, S. 50). Die ersten und wichtigsten Objekte sind dabei Vater und Mutter, Objekte können aber auch Gegenstände oder abstrakte Konzepte sein. 

Adler hingegen betont sehr stark das Subjekt. Sein Konzept der „Minderwertigkeit“  (ebd. S. 49) motiviert eine Person, sich den Objekten in der Umgebung eine „illusorische Überlegenheit“ zu sichern. Dabei ist es gleichgültig, welche Objekte in der Umgebung vorkommen („Eltern, Erzieher, Vorgesetzte, Autoritäten, Situationen, Institutionen oder sonstige Dinge“ (ebd.))

Daraus zieht Jung den Schluss, dass die beiden Konzepte auf unterschiedliche Typen von Personen abzielen. Der eine, extravertierte Typus, bezieht sich auf die Objekte seiner Umgebung und ist „wenn normal, charakterisiert durch ein entgegenkommendes, anscheinend offenes und bereitwilliges Wesen, das sich leicht in jede gegebene Situation findet, rasch Beziehungen anknüpft und sich oft unbekümmert und vertrauensvoll in unbekannte Situationen hineinwagt, unter Hintansetzung möglicher Bedenken.“ (ebd, S. 51 f.). Die Libido, d.h. die psychische Energie fließt in diesem Fall direkt den Objekten zu, „das eigene Subjekt liegt, wenn irgend möglich im Dunkeln. Man verhüllt es auch vor sich selbst mit Unbewusstheit. Die Abneigung, die eigenen Motive einer kritischen Beobachtung zu unterziehen , ist ausgesprochen.“ (Jung, 2019b, S. 23).

Beim introvertierte Typ dagegen fließt die Libido nach Innen in Richtung des Subjekts, das deutlich wichtiger wird als die Objekte der Außenwelt. Dieser Typ ist „wenn normal, gekennzeichnet durch ein zögerndes, reflexives, zurückgezogenes Wesen, das sich nicht leicht gibt, vor Objekten scheut, sich immer etwas in der Defensive befindet und sich gerne versteckt hinter misstrauischer Beobachtung“ (Jung, 2019, S. 51.). Und „Der Umgang mit ihm selbst ist ihm Vergnügen. Seine eigene Welt ist ihm ein sicherer Hafen, ein ängstlich gehüteter, ummauerter Garten, vor aller Öffentlichkeit und zudringlicher Neugier geborgen. Seine Gesellschaft ist ihm die beste.“ (Jung, 2019b, S. 24)

Durch die Einschränkung „wenn normal“ mahnt Jung selbst zur Vorsicht. Er weist darauf hin, dass die Typen selten in Reinform vorkommen, dass es „Mischungsverhältnisse“ gibt und dass es  im konkreten Fall oft schwierig ist, festzustellen, welcher Typ nun vorherrscht. Wichtig ist jedoch, dass jeder Mensch Anteil an beiden Typen hat. In der Regel herrscht jedoch ein Typ vor, der andere hingegen verlagert seinen Einfluss ins Unbewusste. Die daraus entstehende Gegensatzspannung (Extravertiert – Introvertiert, bewusst – unbewusst) sorgt für die innerpsychische Dynamik.

Die Funktionstypen

Jungs Konzept bleibt jedoch nicht bei der Unterscheidung Extraversion vs. Introversion stehen. Durch die Kombination dieser allgemeinen Einstellungstypen mit den vier Funktionen, die der Psyche zur Verfügung stehen, um mit inneren und äußeren Vorgängen zu interagieren entstehen 8 mögliche Typen.

Jung unterscheidet hierbei zwischen rationalen und irrationalen Funktionen. Die rationalen Funktionen sind Denken und Fühlen, wobei Denken mit rationalem Abwägen, Fühlen dagegen mit emotionalem Bewerten gleichzusetzen ist. Die irrationalen Typen sind Empfinden (sinnliches Wahrnehmen) und Intuieren (ahnungsvoller Sinn für die Möglichkeiten, das Bauchgefühl). 

Aus jeder der beiden Kategorien kann nur eine Funktion vorherrschend sein, d.h. Denken und Fühlen schließen sich beispielsweise aus. Die unterlegene Funktion wird ins Unbewusste verdrängt, wo sie auf einer kindlichen Entwicklungsstufe ein Eigenleben führt. So können dann sehr rationale Menschen beispielsweise durch häufige Wutanfälle wegen scheinbarer Kleinigkeiten beeinträchtigt sein.

Die dominierende Funktion verfügt zudem meistens über eine Hilfsfunktion aus der anderen Kategorie. So kann beispielsweise dem rationalen Denktyp die irrationale Funktion des Empfindens zur Seite gestellt sein, was möglicherweise eine sehr auf Details bezogene, analytische Arbeitsweise hervorbringt.

Die acht resultierenden Typen nach Jung sind demnach:

Extravertiert – Denken: „Dieser wird also, der Definition gemäß eine Mensch sein, der das Bestreben hat, (…)  seine gesamte Lebensäußerung in die Abhängigkeit von intellektuellen Schlüssen zu bringen, die sich in erster Linie am objektiv Gegebenen, entweder an objektiven Tatsachen oder allgemeingültigen Ideen orientieren.  (ebd, S. 53). Es fällt leicht, sich hier Wissenschaftlerinnen vorzustellen. Die Extremform des Typus ist durch Dogmatismus geprägt.

Extravertiert – Fühlen: „Das Fühlen in der extravertierten Einstellung orientiert sich nach dem objektiv Gegebenen, das heißt, das Objekt ist die unerlässliche Determinante der Art des Fühlens.“ (ebd, S. 63). Die gefühlsmäßige Bewertung orientiert sich an traditionellen oder alpgemeingültigen Werten, ein Bild ist also beispielsweise schön, nicht weil es schön erscheint, sondern weil es in einem berühmten Museum hängt. Jung, ein Kind seiner Zeit, nimmt an, dass vor allem Frauen in diese Kategorie fallen, wodurch sich auch erklärt, dass die Extremform des Typus die berüchtigte „Hysterie“ bildet.

Extravertiert – Empfinden: Für diesen Typ steht „die reale Erfahrung am konkreten Objekt“ im Vordergrund, „seine Absicht geht auf den konkreten Genuss, ebenso seine Moralität“ (ebd. S. 74). Die Einstellung könnte man wohl am ehesten als hedonistisch bezeichnen. Dieser Typus lebt in der Gegenwart und ist nur an äußeren Sinneseindrücken interessiert. Ins Extrem gewandt wird hieraus der „rohe Genussmensch“ oder der „raffinierte Ästhet“. 

Extravertiert – Intuieren: „Der Intuitive befindet sich nie dort, wo allgemein anerkannte Wirklichkeitswerte zu finden sind, sondern immer da, wo Möglichkeiten vorhanden sind.“ (ebd. S. 80). Diese opportunistische Einstellung lässt an Politiker denken, die jede Chance wittern, in der Wählergunst zu steigen. Im Extremfall verzetteln Menschen in diesem Typus sich häufig angesichts der Vielzahl der sie umgebenden Möglichkeiten.

Introvertiert – Denken: Hier bestimmt des „subjektive Richtungsgefühl“ (ebd. S. 95) alle Urteile, „es erschafft Fragestellungen und Theorien, es eröffnet Ausblicke und Einblicke, aber es zeigt Tatsachen gegenüber ein reserviertes Verhalten“ (ebd.). Vielleicht könnte man diesen Typus am ehesten mit dem Bild des Philosophen beschreiben.

Introvertiert – Fühlen: Nach Jung ist dieser Typ sehr schwer zu beschreiben, da die subjektiven Gefühlszustände des Verhalten leiten, die wiederum nicht oder nur schlecht objektiv erfassbar sind: „Da sie sich überwiegend von ihrem subjektiven orientierten Gefühl leiten lassen, so bleiben ihre wahren Motive meistens verborgen.“ (ebd., S. 105). „Obschon stets eine Bereitschaft zu einem ruhigen und harmonischen nebeneinander gegeben ist, so zeigt sich dem fremden Objekt gegenüber keine Liebenswürdigkeit, kein warmes Entgegenkommen, sonder eine kühle bis abweisende Art.“ (ebd. S.106). Auf den Punkt gebracht: „Stille Wasser sind tief“.

Introvertiert – Empfinden: Dieser Typ ist ebenfalls schwer zu beschreiben. Jung bringt hier das Beispiel von Malern, die dieselbe Szenerie malen, deren Bilder aber unterschiedlich stark durch ein durch innere Stimmungslagen hervorgerufenes „inneres Sehen“ (ebd., S. 111) . Das Objekt löst also im Innern der Person Empfindungen aus, die dann das Ruder übernehmen und handlungsleitend werden, wobei sie im Extremfall mit dem Objekt gar nichts mehr zu tun haben, sondern sich eher an einer „archaischen Wirklichkeit“ (ebd, S. 116) orientieren. Sichtbar kann dies z.B. in moderner Kunst werden, die sich häufig auf archetypische Urbilder bezieht und den realen Gegenstand dementsprechend umformt. 

Introvertiert – Intuieren: Die Intuition orientiert sich hier ebenfalls an der inneren Realität. Jung bezeichnet prototypische Exemplare dieser Kategorie als mystische Träumer und Seher, als ahnungsvolle Phantasten oder Künstler. Auch dieser Typus ist äußerst schwer mit rationalen Begriffen zu beschreiben.

Die Auflösung der Gegensätze im Selbst

Wie aus der Darstellung hoffentlich ersichtlich wird, ist auch die Typologie aus Gegensatzpaaren aufgebaut. Da Jung in der Tradition der Physik des 19. Jahrhunderts steht, sieht er als eine wichtiges Entwicklungsprinzip die „Entropie“ an, also ganz grob vereinfacht, die zunehmende Angleichung der Energiebesetzungen der Systeme der Psyche. Diese Entwicklung hin zu einem ausgeglichenen Selbst bedeutet im Hinblick auf die Typen, dass diese darauf hinstreben, sich bezüglich ihrer extremen Ausprägungen anzugleichen. Extravertierte Menschen werden im Lauf ihres Lebens daher lernen, ihre introvertierten Anteile zu integrieren und so die innenpsychischen Spannungen zu beruhigen. Die von manchen Coaches propagierte Slogan „Werde dein Typ!“ ist nach Jung Unsinn. Es geht vielmehr darum, die Polarität der Typen in ein inneres Gleichgewicht zu bringen, was allerdings eine lebenslange Aufgabe darstellt.

Beispiele

Ich möchte angesichts der bereits etwas aus den Fugen geratenen Länge des Textes zwei Beispiele literarischer Figuren herausgreifen, die Jungschen Typen entsprechen.

Bruce Banner aus dem Marvel Universum ist m.E. in schönes Beispiel für einen introvertierten Denker. Er ist zwar an Daten und Fakten orientiert, ein großer Forscher, im Verhalten aber eher zurückhaltend, grüblerisch, abwägend. Er macht viel mit sich selbst aus und steht ungern im Rampenlicht. Der Hulk ist seine stark verdrängte Seite: explosiv extravertiert und emotional.

Luna Lovegood aus den Harry Potter Romanen ist dagegen ein Paradebeispiel für einen introvertierten Intuitionstyp: versponnen und in ihrer eigenen Welt lebend und doch auch irgendwie auf der richtigen Spur.

Jungs Typologie eignet sich m.E. sehr gut, um klar unterscheidbare Figuren zu konstruieren. Wenn der Antagonist ein extravertierter Intuitionstyp ist, kann man ihm eine introvertierte Denkerin entgegenstellen. Allein der Gegensatz zwischen diesen beiden Typen erzeugt schon ein großes Maß an Konflikt. Allerdings sollte man sich davor hüten, es mit den Extremen zu weit zu treiben. Wenn alle Figuren „reine Typen“ sind, werden sie rasch stereotyp und verlieren an Lebensnähe. Hier gilt wohl wie meistens im Leben: Die richtige Mischung macht’s!

Ausblick 

Jungs Ansatz hat eine ganze Reihe von Forschern inspiriert und sowohl interessante als auch umstrittene Entwicklungen angestoßen, von denen die populärste wohl der Myers-Briggs-Typenindikator darstellt. Dieses „Testverfahren“ eignet sich sehr gut, um die Kritik an Jungs Konzept auf den Punkt zu bringen. Das wird das Thema des Beitrags in der kommenden Woche sein, zudem gehen ich darin auf Hans-Jürgen Eysenck ein, der Jungs Ansatz weiterentwickelt hat. Ich schließe mit den modernen, lexikalischen Ansätzen, nach denen Extraversion ein Teil der berühmten „Big 5“ darstellt.

Literatur

Herzberg, P. (2020, June 10). Typologie. In Dorsch Lexikon der Psychologie. Retrieved from: https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/typologie

Jung, C.G. (2019). Zwei Schriften über Analytische Psychologie. Ostfildern: Patmos. 

Jung, C.G. (2019b). Typologie. Ostfildern: Patmos