Im dritten Teil meiner kleinen Reihe über Gordon W. Allport geht es um die besonders originellen Aspekte seiner Persönlichkeitstheorie, die auch heute noch interessant sind, insbesondere auch für Schreibende.
1. Funktionelle Autonomie
Ein zentrales Konzept in Allports Persönlichkeitstheorie ist die funktionelle Autonomie. Der Begriff bezeichnet das Phänomen, dass „eine gegebene Tätigkeit oder Verhaltensweise ein Ziel oder Zweck in sich selbst werden kann trotz der Tatsache, dass sie zu Beginn aus einem anderen Grund an- oder eingewöhnt wurde.“ (Hall & Lindzey, 1978, S. 305).
So könnte beispielsweise ein Kind, das Klavier lernt zunächst fremdmotiviert sein und nur aus Angst vor Bestrafung durch die Eltern üben. Mit der Zeit und wachsender Freude am Musizieren, wandert das Motiv in diese Tätigkeit selbst. Das Klavierspielen wird also um des Klavierspielens willen betrieben.
Allport unterscheidet zwei Ebenen:
Perseverative funktionelle Autonomie: Süchte, wiederholtes Verhalten und Routinen
Propriate funktionelle Autonomie: Interessen, Werte, Gesinnungen, Intentionen, Selbstbild u.ä.
Auch ungünstige Gewohnheiten können propriat funktionell autonom werden, so etwa ein extremer Perfektionismus. Dieser entsteht häufig in der Kindheit in Situationen, in denen eine Person in einer chaotischen Umwelt selbst für Ordnung sorgen muss, weil die Eltern beispielsweise aufgrund eigener Schwierigkeiten nicht in der Lage dazu sind, ihrem Kind eine sichere Umgebung zum Aufwachsen zu bieten. Ordnung wird daher überlebenswichtig. Im Erwachsenenleben wäre es nun oft nicht mehr notwendig, perfektionistisch zu sein, um zu überleben. Das Verhalten wird dennoch fortgesetzt, weil es sich von seinem ursprünglichen Entstehungsmotiv abgekoppelt hat. Es ist propriat funktionell autonom geworden.
Auch in der Klinischen Psychologie wird diskutiert, ob manche Erkrankungen wie etwa Panikstörungen ein Eigenleben fernab von ihren ursprünglichen Auslösern entwickeln. Dies hat enorme Auswirkungen auf die Art der spezifischen Therapien. Sie berücksichtigen die Theorien der kognitiven Verhaltenstherapie im Gegensatz zu tiefenpsychologischen Ansätzen das Konzept der funktionellen Autonomie, weshalb in einer Verhaltenstherapie der Fokus wesentlich stärker auf die Bedingungen gelegt wird, die eine Angststörung in der Gegenwart am Laufen halten, als auf die ursprünglichen Auslöser der Panik (vgl. Grawe, 2000)
Mit der funktionellen Autonomie positionierte Allport sich gegen die Psychoanalyse, die die Ursache für heutiges Handeln zumeist in der frühen Kindheit verortet, aber auch gegen die Lerntheorie, die Mechanismen wie operante oder klassische Konditionierung als bestimmend für unsere Handlungen ansieht. Allport schließt nicht aus, dass aktuelles Verhalten aus diesen Quellen gespeist wird, er weist jedoch darauf hin, dass der Anteil funktionell autonomer Verhaltensweisen in einer Person ein Ausdruck ihres Reifegrades sei, während das Vorherrschen konditionierten Verhaltens ein Zeichen von Unreife sei (vgl. Hall & Lindzay, 1978).
2. Reife
Da Allport an der Beschreibung einer nicht-pathologischer Persönlichkeit interessiert war, legt seine Theorie einen deutlich höheren Stellenwert auf positive Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung. Dies wird insbesondere ins einem Konzept der Reife deutlich.
Nach Allport ist das Kleinkind ein reines Trieb- und Reflexwesen. Es hat keine Persönlichkeit und handelt nach den Prinzipien der Lustvermehrung und der Unlusstvermeidung. Ab dem Alter von etwa 6 Monaten zeigt das Kind jedoch schon erste Persönlichkeitszüge wie etwa eine individuelle Lust und Freude an der Bewegung oder eigentümlichen Gefühlsausdruck.
In der Folge kommt es zu einer Gestaltung der individuellen Persönlichkeit, an der zahlreiche Prozesse beteiligt sind:
- Differenzierung
- Integration
- Reifung
- Nachahmung
- Lernen
- Funktionelle Autonomie
- Ausdehnung des Selbst
Lernen ist dabei mehr als nur ein mechanischer Konditionierungsprozess, es erfordert Einsicht und Reflexion.
„Nach allem haben wir also einen Organismus, der der Geburt ein Geschöpf der Biologie ist, um dann in ein Individuum transformiert zu werden, das im Sinne eines wachsenden Ich, einer sich verbreiternden Eigenschaftsstruktur und einer Keimzelle für zukünftige Ziele und Aspirationen operiert.“ (Hall & Lindzey, 1978, S. 313)
Nach Allport unterscheiden sich Erwachsene grundlegend von Kindern. Sie weisen eine Reihe organisierter, in sich stimmiger Eigenschaften auf und richten ihr Handeln bewusst auf das Erreichen von Zielen aus. Der Grad, in dem ein Individuum dies erreicht, entspricht seiner Reife. Wenn das Verhalten durch unbewusste Motive wie etwa das Lustprinzip bestimmt wird, fehlt Reife.
Was führt nun zu Reife? Allport nennt hier sechs Kriterien, die eine reife Person kennzeichnen (zitiert nach Rauthmann, 2017):
- Ausweitung des Selbstsinns: Nicht selbstzentriert sein, sondern sich für andere interessieren und ihnen helfen
- Einfühlungsvermögen: Einfühlsam und emphatisch sein
- Selbstakzeptanz: Sich selbst und seine Emotionen akzeptieren, ohne sich zu verleugnen oder zu verbiegen
- Realismus: Sich problemlösend in der realen Welt (ohne Fantasieausflüchte) zurechtfinden und Verantwortung übernehmen
- Selbstkenntnis: Erkennen, was man kann und was nicht, sodass man seine eigenen (nur allzu menschlichen Schwächen) mit Humor nehmen kann
- Lebensphilosophie: Sich selbst Sinn, Richtung, Werte und Lebensstandards (= eigene Philosophie) setzen und verfolgen
Die Reifung einer Person findet durch eine Ausbildung und Entwicklung dieser sechs Bereiche statt.
3. Ausdrucksverhalten
Ein weiterer Forschungsschwerpunkt von Allport lag auf der Erfassung von Ausdrucksverhalten. Er unterschied zwischen zwei Komponenten, die jedem Verhalten innewohnen:
- Anpassungs- und Leistungskomponente: bestimmt den funktionellen Wert der Handlung
- Ausdruckskomponente: Stil der Handlung
Wenn ich also beispielsweise einen Brief schreibe, besteht die Anpassungs- und Leistungskomponente aus dem korrekten Aneinanderreihen von Buchstaben, während die Ausdruckskomponente sich etwa in der Handschrift oder den individuell gewählten Worten, dem Stil ausdrückt.
Nach dem Prinzip der Kongruenz müssen selbst trivialste Akte mit der der inneren Ausstattung eines Menschen zusammenhängen: „Der Ausdruck ist auf komplexe Weise genauso geformt, wie die Persönlichkeit selbst geformt ist.“ (Hall & Lindzey, 1978, S. 326.)
Demnach müsste nach Allport in jeder Handlung eines Menschen seine Persönlichkeit vollumfänglich enthalten sein. Der Grund einer Handlung wird durch seine Intentionen, der Stil durch persönliche Eigenschaften bestimmt.
Allport fand insbesondere in Untersuchungen zur Handschrift Hinweise, die diese Hypothesen stützten.
4. Literatur
Grawe, K. (2000). Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe.
Hall, C.S. & Lindzay, G. (1978). Theorien der Persönlichkeit. Band 1. München: Beck.
Rauthmann, J. F. (2017). Persönlichkeitspsychologie: Paradigmen – Strömungen – Theorien. Berlin: Springer.